Amselgeflüster

Darf ich mich vorstellen? Ich bin Adele und finde Schule im Moment einfach großartig. Ja, die Menschen leiden unter der Corona-Situation, insbesondere auch die Schülerinnen und Schüler. Sie müssen nämlich meistens zu Hause bleiben. Das tut mir irgendwie leid für sie. Distanzlernen muss für viele Kinder die Hölle sein. Aber für mich bedeutet es, dass Schule ein relativ ruhiges Plätzchen ist. Das genieße ich und so finde ich Zeit für eine Geschichte, dies ist der erste Teil:

Anfang März entdeckte ich, eher zufällig, ein besonders lauschiges Plätzchen auf dem Schulgelände: Da hatte vor mir schon jemand ein Nest im Rhododendron gebaut, das war zwar ein Altbau, aber wirklich gut versteckt und beinahe hätte ich ihn gar nicht bemerkt. Ich musterte alles genau: Ja, eine „Reinmachaktion“ müsste ich schon vornehmen, aber viele der kleinen Zweige waren stabil und kunstvoll verknüpft. Das war gar nicht einmal schlecht gemacht, offensichtlich hatten meine Vorgänger eine Menge Ahnung vom Nestbau. An der einen oder anderen Stelle müsste ich kleinere Teile flicken, das sollte für mich aber kein Problem sein. Allerdings, die Polsterung, sie war dürftig, so wäre sie mir zu unbequem. Hier müsste ich eine Komplettsanierung vornehmen. Sollte ich den Aufwand wagen? Ich beobachtete vorsichtshalber zuerst das Umfeld aus luftiger Höhe:
Das Nest war, wie schon erwähnt, gut versteckt, Windstille und eine herrliche Ruhe. Alles paletti? Nicht ganz, am Vormittag kamen manchmal Menschen, nahmen ihre Masken ab und verweilten in unmittelbarer Nähe zum Nest. Sie hielten bewusst den Corona-Abstand ein, erzählten und lachten miteinander. Ich meckerte aus luftiger Höhe und nach 10 oder 15 Minuten verschwanden sie tatsächlich wieder. Ich fühlte mich als Siegerin und entschloss mich, das Nest zu meiner Wohnung zu machen und gründlich zu renovieren. Ich organsierte Polstermaterialien und machte es mir schließlich gemütlich. Das war eine Heidenarbeit, aber irgendwann war ich richtig zufrieden mit mir und meinem Werk. Ich zog ein und genoss meine neue Wohnung.

Mit den Menschen arrangierte ich mich. Eigentlich reicht der Platz doch für uns alle, ihre kurzen Stippvisiten kann ich gut tolerieren, ansonsten behelligen mich die Menschen nicht weiter, auch wenn sie inzwischen meine Aktivitäten am Nest entdeckt hatten und immer mal wieder versuchten, einen Blick auf mich und mein Nest zu erhaschen.

Aber heute war die weißhaarige Menschin penetrant: Ich hatte sie schon oft beobachtet, sie mich auch. Sie hatte viele Male auf mich eingeredet. Ich verstand ihre Sprache nicht, aber es war eine dunkle, angenehme Stimme, sie machte mir keine Angst. Ich hatte ihr nie geantwortet. Was hätte ich auch sagen sollen, ich hatte doch keine Ahnung, was sie mir mitteilen wollte.
Heute starrte sie mich ruhig an, fixierte mein rechtes Auge und näherte sich mit ihrem Handy meinem Nest. Sie fotografierte mich. Gemeinheit! Ich murmelte etwas von Verletzung der Intimsphäre. Aber ich hielt ihrem Blick stand und verharrte regungslos. Die Menschin kontrollierte das Foto, dazu musste sie eine Brille aufsetzen. Guck an, sie kann also gar nicht so gut sehen und trotzdem hatte sie mein Nest als erste entdeckt. Sie war offensichtlich nicht zufrieden, denn sie schüttelte den Kopf. Und anschließend besaß sie doch tatsächlich die Frechheit, ein zweites Foto zu machen. Das war offensichtlich besser gelungen. Die Menschin lächelte, redete auf mich ein, dann winkte sie mir, wie schon so oft, zu und verschwand. Ich hörte das Schließgeräusch des Türschlosses. Ja, das war der Beweis, ich werde die Ruhe genießen können.